Der rote Lippenstift hat eine äußerst rebellische Vergangenheit. Er dient als Zeichen des Feminismus, des Widerstands und der Selbstbestimmtheit. Grund genug für uns, uns das Ganze mal genauer anzuschauen.

„Mettez le rouge et attaquez!“ („Legt roten Lippenstift auf und greift an!“) Coco Chanel
Ich gebe zu: roten Lippenstift habe persönlich erst relativ spät für mich entdeckt. War mir zu auffällig und … vielleicht zu verrucht? Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass die Hintern von Paviandamen besonders gut durchblutet (und damit extra-rot) werden, wenn Sie zur Paarung bereit sind. Damit senden sie den Pavianherren ein klares Signal. Die Autoren des Beitrags schlugen daraufhin die Brücke zu rotem Lippenstift als klares Stilmittel der nonverbalen Kommunikation auch im menschlichen Paarungsverhalten. Logisch. Roter Lippenstift für den „Male Gaze“.
Mit der Aussage kann ich heutzutage nicht mehr mitgehen. Mittlerweile ist roter Lippenstift für mich eher Teil eines Mindsets und schon längst fester Bestandteil meiner Makeup Schublade – auch in nicht paarungsbereiten Zeiten. Denn was ich seit dem Pavianartikel unter anderem gelernt habe: Rote Farbe auf den den Lippen hat eine lange Geschichte des Widerstands und der Emanzipation.
Elizabeth Arden und die Suffragetten: Rote Lippen für das Wahlrecht
Zur Einstimmung starten wir mit einem sehr kurzen Ausflug in die Farbsymbolik. Die Farbe Rot hat traditionell verschiedene Bedeutungen, darunter Stärke, Energie, Selbstbewusstsein, Mut, Leidenschaft und – Achtung – Rebellion.

Jetzt sind wir bereit für den Sprung ins Jahr 1912. New York City erlebt einen historischen Moment, als rund 15.000 bis 25.000 Frauen in einer beeindruckenden Demonstration die Fifth Avenue entlangzogen, um lautstark ihr Wahlrecht einzufordern.
Unter den zahlreichen Unterstützerinnen dieser Bewegung befand sich auch Elizabeth Arden, die visionäre Gründerin ihres gleichnamigen Kosmetikunternehmens. Arden erkannte die symbolische Kraft der Farbe Rot und nutzte ihren Einfluss, um die Anliegen der Suffragetten zu unterstützen. Sie verteilte großzügig Proben ihres leuchtend roten Lippenstifts – namentlich die „Red Door“-Lippenfarbe, die später zu einem ihrer ikonischsten Produkte werden sollte – an die marschierenden Frauen.
Dieses kräftige Rot wurde bewusst als Zeichen von Mut, Stärke und Entschlossenheit gewählt und trug dazu bei, ein visuell kraftvolles Statement zu setzen. Ardens Unterstützung ging über eine bloße Geste hinaus; sie positionierte ihre Marke subtil als Befürworterin weiblicher Ermächtigung, indem sie die Farbe Rot, die wie oben schon erwähnt traditionell mit Energie und Selbstbewusstsein assoziiert wurde, mit der Forderung nach politischer Gleichheit verband.
„Der Begriff „Suffragette“ bezeichnete übrigens primär Aktivistinnen der Frauenwahlrechtsbewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, insbesondere in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Der Begriff entstand zunächst als abfällige Verkleinerungsform des Wortes „Suffragist“ (Befürworter des Frauenwahlrechts). Die selbstbewussten und oft militanten Taktiken einiger Aktivistinnen, wie Demonstrationen, ziviler Ungehorsam und Protestaktionen, führten zu dieser – oft negativ konnotierten – Bezeichnung. Viele Aktivistinnen eigneten sich den Begriff jedoch später selbstbewusst an und machten ihn zu einem Symbol für ihren entschlossenen Kampf für das Wahlrecht und die politische Gleichstellung der Frauen.
Roter Lippenstift im Dritten Reich: Ein subtiler Gruß des Widerstands
Die rigiden Schönheitsideale des Nationalsozialismus propagierten ein „natürliches“ Erscheinungsbild der Frau, das vor allem Mutterschaft und Häuslichkeit betonte. Auffälliges Make-up, insbesondere roter Lippenstift, wurde von der NS-Führung, einschließlich Adolf Hitler, als dekadent, „undeutsch“ und mit „jüdischem“ oder „bolschewistischem“ Einfluss assoziiert, abgelehnt. Dennoch verschwand roter Lippenstift nicht von den Gesichtern deutscher Frauen. Im Gegenteil, er entwickelte sich in bestimmten Kontexten zu einem subtilen, aber wirkungsvollen Ausdruck von Individualität und – in gewisser Weise – auch von Widerstand gegen die ideologischen Vorgaben des Regimes.
Nun muss man an dieser Stelle flugs betonen, dass das Tragen von rotem Lippenstift im Dritten Reich nicht per se eine offene politische Protestaktion darstellte und auch nicht von allen Frauen als solche beabsichtigt war. Für viele Frauen war Make-up ein fester Bestandteil ihrer persönlichen Identität und ihres Selbstverständnisses, das sie sich auch unter den restriktiven Bedingungen nicht vollständig nehmen lassen wollten. Roter Lippenstift konnte genauso gut ein Gefühl von Normalität, Weiblichkeit und Selbstbehauptung in einer zunehmend kontrollierten und uniformierten Gesellschaft vermitteln.
Allerdings gab es durchaus eine subtile Ebene des Widerstands. Indem Frauen bewusst rote Lippen trugen, widersetzten sie sich den propagierten Schönheitsidealen des Regimes und setzten ein kleines, aber sichtbares Zeichen ihrer eigenständigen Identität und ihrer Individualität. In einer Zeit, in der öffentliche Meinungsäußerung gefährlich war, konnte das bewusste Tragen von als „unerwünscht“ geltenden Accessoires eine nonverbale Form der Distanzierung zum Regime darstellen. Es war ein stiller Protest, der oft im Privaten oder im informellen Umgang Ausdruck fand.
Wichtig: Es gibt keine flächendeckenden Studien oder direkten Aufrufe von Widerstandsgruppen, die rotem Lippenstift explizit als Symbol des Widerstands propagierten. Die Bedeutung entwickelte sich eher organisch und wurde von Einzelnen oder kleineren Gruppen interpretiert und gelebt. Dennoch ist die Anekdote, dass beispielsweise britische Pilotinnen im Zweiten Weltkrieg demonstrativ roten Lippenstift trugen, um ihre Moral und ihr Selbstbewusstsein zu stärken und den NS-Idealen entgegenzutreten, ein bekanntes Beispiel für die Verbindung von rotem Lippenstift und Widerstand in dieser Zeit. Obwohl dies nicht direkt die Situation der Frauen im Dritten Reich widerspiegelt, zeigt es die breitere Symbolik, die roter Lippenstift in der Auseinandersetzung mit den Achsenmächten entwickeln konnte.
Roter Lippenstift heute: Zwischen Catwalk und Kulturkampf
Heutzutage ziert roter Lippenstift die Lippen von Frauen weltweit – von Laufstegen bis hin zu politischen Bühnen. Doch seine Bedeutung variiert kulturell erheblich:
Naher Osten: Hier sind tiefe Rot-, Pflaumen- und Beerentöne beliebt. Sie symbolisieren Selbstvertrauen und Ausdrucksstärke, wobei die Wahl der Farbe oft kulturellen und persönlichen Vorlieben unterliegt.
Ostasien: In Ländern wie China steht die Farbe Rot traditionell für Glück und Wohlstand. Roter Lippenstift wird hier nicht nur als Schönheitsmerkmal, sondern auch als Glücksbringer angesehen.
Westliche Welt: Roter Lippenstift gilt oft als Zeichen von Selbstbewusstsein und Feminismus. Prominente Persönlichkeiten wie die New Yorker Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez, oder auch Investorin und Unternehmerin Tijen Onaran nutzen ihn bewusst als Teil ihres öffentlichen Auftritts, um Stärke und Entschlossenheit zu vermitteln.
„Lippenstift lässt das Hirn nicht schrumpfen!“ Tijen Onaran
Tijen Onaran setzt sich seit Jahren für die Sichtbarkeit von Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft ein – und das nicht nur mit Worten, sondern auch mit einem eigenen Lippenstift. Gemeinsam mit Douglas brachte sie einen roten Lippenstift auf den Markt, der für Selbstbewusstsein, Sichtbarkeit und Female Empowerment steht. Tijen zeigt: Feminismus kann glamourös sein, ohne an Ernsthaftigkeit zu verlieren – und manchmal kann es eben auch ein kräftiges Rot sein, um Haltung zu zeigen.